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Parcitas oder die Offenbarung der Wirklichkeit

Marcel Bächtiger
Parcitas oder die Offenbarung der Wirklichkeit

Man sollte vielleicht nicht vorschnell den Tod des Autors ausrufen, doch kann die Wende von «Building» zu «Upcycling» nicht ohne gleichzeitige Justierung des Rollenbilds von Architektinnen und Architekten auskommen. Die Klimakrise verlangt ein fundamental Umdenken von allen Akteuren des Bauwesens, und fundamental wird sich deshalb über kurz oder lang auch die Begriffs- und Seinsbestimmung der Architektur wandeln. Zu den drei klassischen, von Vitruv formulierten Anforderungen an die Architektur – firmitas, utilitas, venustas – wird eine vierte Kategorie treten müssen, die wir in lateinischer Tradition parcitas, Sparsamkeit, nennen könnten: die Sparsamkeit der Mittel, der Energie, der Materialien. Je grösser der Anteil an Wieder- und Weiterverwendung von Bauteilen, Elementen und bestehenden Strukturen, so die einfache Gleichung, desto sparsamer die Architektur.

Die neue Kategorie der parcitas verlangt verständlicherweise nach einer Erweiterung des Wissens der Architekturschaffenden. Verlangt sind neu Kenntnisse über Energie- und Ressourcenverbrauch, aber auch Innovation und Kreativität bei der Beschaffung und Handhabung vorhandener Materialien und Bauteile. Die Architektin des 21.Jahrhunderts, so liesse sich formulieren, ist die ökologisch bewusste Architektin mit entsprechendem Know-How.

Hätte man das neue Rollenbild mit diesen Umschreibungen bereits abschliessend formuliert, wäre die Sache verführerisch einfach, aber auch ein wenig deprimierend. Verführerisch einfach, weil parcitas eine Frage von Berechnungen und damit im herkömmlichen Sinn lehr- und lernbar wäre, deprimierend, weil sich die Erneuerung der Architektur in einer weiteren Quantifizierung des Entwurfs, in zusätzlichen Zahlen und Berechnungen und deren Optimierung im Planungsprozess erschöpfen würde.

Nun sind die Vermittlung und der Erwerb ökologischen Know-How’s aber bloss die sichtbaren, sozusagen im Bewusstsein ablaufenden Konturveränderungen des Architektenmetiers, während die allmähliche Fokusverlagerung vom Primat des Neubau auf Praktiken des «Re-use» und «Upcycling» auch die tiefer liegende Schichten des Architekten- Selbstbilds erfasst und sie grundlegend zu transformieren beginnt.

Eine der ältesten Definitionen des Architektenberufs, formuliert im 5. oder 6. Jahrhundert bei Isidor von Sevilla, lautet wie folgt: «Architekten sind unter den Maurern diejenigen, welche die Fundamente auslegen.» Die Fundamente entsprechen hier dem Grundriss im Massstab 1:1, über ihr «Auslegen» wird das Bauwerk entworfen. Als konzipierender Maurer auf der Baustelle oder in späteren Jahrhunderten als entwerfender Zeichner im Büro schafft der Architekt Neues, wo vorher Ödland war. Die Linie im Raum, die innen und aussen trennt, so will es der Mythos der Baukunst, ist nichts weniger als ein Schöpfungsakt: der Anfang der Architektur und der menschlichen Zivilisation. Was bleibt also vom Architekten übrig, wenn die Fundamente bereits vorhanden sind? Wenn es keine neuen Grundrisse auszulegen gibt? Dem stolzen Selbstbild als Weltenschöpfer, wie es über Jahrhunderte kultiviert wurde, scheint hier selber das Fundament wegzubrechen.

Freilich kennt die Architekturgeschichte eine lange Tradition des Umgangs mit Vorhandenem, sowohl was den «Re-use» von Bauteilen (Spolien) als auch das «Upcycling» ganzer Bauten oder Bau-Ensembles betrifft (die Beispiele reichen hier vom Petersdom bis zu den Industriearealen des 19. Jahrhunderts). Dennoch ist der Vorrang der genialischen Schöpfung vor dem scheinbar kompromissbehafteten Um- und Weiterbauen de facto bis zum heutigen Tag bestehen geblieben: noch immer listet ein Architekturbüro in seinem Werkkatalog lieber den Neubau als die Sanierung auf, und noch immer meint ein Architekt ohne potentielles signature building im Portfolio kleinlaut zugeben zu müssen, dass er halt «bloss Umbauten» mache – eine Berufsauffassung, die auf der kindlichen Überzeugung beruht, dass das von Grund auf Selbsterdachte besser und wertvoller ist als das von fremden Ideen Kontaminierte. Auch wenn man wiederum einwenden mag, dass es in der Geschichte der Architektur nicht an Aufrufen mangelt, das Bauen als Dialog mit Ort und Kontext und damit als Weiterbauen des Vorhandenen zu verstehen, so scheinen diese moralischen Appelle doch regelmässig im Sand zu verlaufen, um von immer Neuem das strahlende Bild des Architekten als souveränen Erfinders zu bestätigen.

Anders formuliert, ist das Rollenbild des Architekten erstaunlich antiquiert: die verschiedenen Theorien zu Status und Rolle des Künstlers – vom improvisierenden Bricoleur Lévi-Strauss‘ über den anfangs erwähnten Tod des Autors bei Roland Barthes bis zur potentiellen Substitution des schöpferischen Individuums durch die künstliche Intelligenz – wurden im Architekturdiskurs der letzten Jahrzehnte zwar rezipiert, blieben in der Praxis aber weitgehend folgenlos. Ironie der Geschichte also, dass erst die drohende Erhitzung der Welt der Architektur die dringend notwendige Auffrischung zu verschaffen verspricht.

Die Wende vom Neu- zum Um- und Weiterbauen ist eine Wende vom Erfinden zum Entdecken. Damit ist aber weder gesagt, dass Innovationsgeist und Kreativität an Bedeutung verlieren, noch dass es keine neuen Architekturerfahrungen mehr geben würde. Im Gegenteil wird das Gebot der parcitas ästhetische Räume erschliessen, die aufregender und vielschichtiger sein werden als die meisten architektonischen Neuschöpfungen der vergangenen Zeit. Dass diese Behauptung nicht zu hoch gegriffen, mag ein Vergleich mit der Filmkunst verdeutlichen: In vielen Aspekten nämlich erinnert der Architektentypus, wie er heute noch weit verbreitet ist, an einen Regisseur des klassischen Hollywood- Kinos. Auch dieser besass im Idealfall auf allen Ebenen die künstlerische Kontrolle. Er entwickelte die Stoffidee und die Geschichte, er wählte die Schauspieler und ihre Kostüme aus, er bestimmte über die Filmbauten, die im Studio errichtet wurden, er dirigierte die Darsteller und Techniker am Set, und er zeichnete im Schnittraum für die finale Fassung des Films verantwortlich. Der ganz und gar der Imagination des Regisseurs entsprungene und nach seinen Wünschen produzierte Spielfilm stellte für einige Jahre die höchste Form der Filmkunst dar. In einigen Fällen erreichten die Resultate tatsächlich die Genialität, die der autorenfixierte Produktionsprozess implizit voraussetzte. Häufiger jedoch stellten sich die Filme als klischiert, voraussehbar und auch ein wenig langweilig heraus. Eigentlich kann dies kaum überraschen, denn warum sollte einer einzelnen Person auf jedes Problem zuverlässig eine gleichermassen überzeugende wie überraschende Lösung einfallen?

Paradoxerweise – und hier wird der Vergleich für uns interessant – führte der Weg zu einer neuen Vielfalt der Formen und Inhalte im Film über ein neues Interesse am bereits Vorhandenen und Vorgefundenen, oder allgemeiner: an der Wirklichkeit. Was mit dem Neorealismus im Italien der Nachkriegszeit begann und heute in den verschiedenen Hybridformen zwischen Dokumentar- und Spielfilm fortlebt und sich weiter entwickelt, basiert letztlich auf einer einfachen Einsicht: dass die Welt, wie sie vor unseren Augen existiert und auf ihre Entdeckung wartet, komplexer, rätselhafter, schöner, überraschender, kurz: um vieles reichhaltiger ist als jede subjektive Erfindung.
Nicht zufällig war auch der Neorealismus Folge einer historisch erzwungenen Sparsamkeit. Im kriegszerstörten und wirtschaftlich am Boden liegenden Italien war an grosse Studiofilme erst einmal nicht mehr zu denken, weshalb die Filmherstellung einer radikalen Vereinfachung unterworfen wurde. Die Verwendung von Originalschauplätzen, die Arbeit mit Laiendarsteller, der Verzicht auf künstliches Licht, auf künstliche Dekors und auf ein ausformuliertes Drehbuch – all das führte jedoch nicht zu einer Verarmung der filmischen Ästhetik, sondern im Gegenteil zu ihrer Renaissance unter veränderten Vorzeichen.

Die neorealistische Offenbarung zeigte sich auf verschiedenen Ebenen, bestätigte aber im Grunde immer dieselbe Entdeckung: Die Dialoge werden vielschichtiger, überraschender und interessanter, wenn die Laiendarsteller so reden, wie sie im Alltag reden – und nicht so, wie es sich der Regisseur oder Drehbuchautor ausgedacht hat. Die Bilder werden vielschichtiger, überraschender und interessanter, wenn sie eine vorgefundene Ding- und Naturwelt mit all ihren Widersprüchen und latenten Bedeutungen zeigen – und nicht die determinierten Studiokulissen, die sich der Regisseur gewünscht hat. Der ganze Film wird vielschichtiger, überraschender und interessanter, wenn er – zusammenfassend – nicht aus der Vorstellungswelt des einzelnen Künstlers schöpft, sondern sich die Komplexität der Wirklichkeit als ästhetisches Reservoir und Inspirationsquelle zu eigen macht.
Aus der Entdeckung des Anderen kann erst die ungeahnte eigenen Erfindung erwachsen: ein Versprechen, dass sich vom Film mühelos auf die Architekturpraxis des «Upcycling» übertragen lässt. Denn so wenig der neorealistische, der semi-fiktionale oder der semi-dokumentarische Film bei der blossen Abbildung der äusseren Welt Halt macht, sondern sie mit jeder künstlerischen Entscheidung zu interpretieren und formen beginnt, so wenig wird sich die architektonische parcitas in der blossen Wiederverwendung des Vorhandenen anstelle der Neuschöpfung erschöpfen. Vielmehr wird die Arbeit mit dem Bestand, wie sie das «Upcycling» voraussetzt, zum gegenseitig befruchtenden Prozess und die daraus entstehende Architektur zum stimulierenden räumlichen Palimpsest, das vom Vergangenen ebenso wie vom Zukünftigen erzählt.

Entwerfen wird zur Entdeckungsreise in ein unbekanntes Terrain, das man alleine gar nicht imaginieren hätte können. Anders gesagt: Dank dem Dialog mit anderen Ideen und anderen Zeiten wird auch die Tätigkeit der Architektin vielschichtiger, überraschender und interessanter. Erlöst vom erdrückenden Ideal des Schöpfergottes, kann sie sich in grösster Freiheit wieder dem widmen, was eigentlich Aufgabe der Baukunst ist, nämlich der vorhandenen Wirklichkeit lebenswerte Räume und Orte abzugewinnen. Was die gute Neuigkeit ist: Eine Architektur, die aus vorhandenen Materialien und Strukturen entwickelt wird, ist nicht nur ökologisch sinnvoller, sondern auch künstlerisch beglückender als der Neubau aus der Hand eines selbstherrlichen Meisters. Der Autor ist nicht gestorben, aber er wird langsam erwachsen.